Der Industrie-Ausrüster

Vorstandsvorsitzender Gerald Fitz im Hochregallager. Neben ihm der Bestseller „Goldschlange“, ein Universalschlauch (Foto: Mathis Fotografie GmbH/Lisa Mathis)
Jetzt geht’s der „Goldschlange“ an den Kragen. Ein kurzer Schnitt, dann stößt er den Messingzapfen tief in ihren Schlund. Gebändigt ist sie damit noch lange nicht. Der Maschinenschlosser Andreas Fend zwingt sie noch in den Schraubstock und legt ihr zwei Messingschalen an. Vier kurze Kraftakte mit dem Druckluftschrauber. Fertig. Für Fend tägliche Routine. Er ist Leiter der Abteilung Industrieschläuche bei Haberkorn in Vorarlberg und damit Herr über alle Leitungen, in denen später giftige Chemikalien durchfließen und unter Hochdruck stehen. Die „Goldschlange“ ist ein Universalschlauch des Herstellers Continental und daher stark nachgefragt.
Haberkorn ist Österreichs größter „technischer Händler“. Das 1932 gegründete Unternehmen stattet Industrie- und Baubetriebe mit dem aus, was sie zum täglichen Leben benötigen: Arbeitsschutz, Dichtungen, Schläuche, Kleber, Antriebselemente für Maschinen, Schrauben, Schmierstoffe und Werkzeuge. Die Liste ist fast unendlich, denn 200.000 verschiedene Produkte umfasst das Sortiment des „B2B-Versandhauses“. 100.000 davon sind in den zwei Großlagern Wien und Wolfurt ständig verfügbar. Insgesamt spannt sich das Netz aus 30 Standorten über ganz Österreich. Unter den 15.000 Kunden rangiert das Who’s who der Industrie und Baubranche: Voestalpine, Porr, Strabag, Magna, KTM.
Den Vergleich mit dem US-Versandriesen Amazon versteht Gerald Fitz (49), Vorstandsvorsitzender der Haberkorn-Gruppe, nur bedingt als Kompliment. „Bei der Sortimentsgröße schon, aber bei Beratung und Know-how über unsere Artikel nicht“, lautet seine Antwort. Verständlich, denn Haberkorn ist kein reiner Händler, kein nüchterner Umschlagplatz fürs Grobe. „Wir liefern dem Kunden die Ware passgenau auf seine Bedürfnisse abgestimmt.“ In mundgerechten Happen eben. Am Beispiel der „Goldschlange“ sieht das so aus: Haberkorn kauft das „Reptil“ in 40-Meter-Rollen, schneidet Stücke gemäß Kundenwunsch ab und versieht es mit Kupplungen und Düsen in der hauseigenen Werkstatt. Genau so funktioniert das auch bei Zahnriemen und anderen Meterwaren. Die Arbeiter schneiden, stanzen und verschweißen sie zu einem Maßprodukt. „Das hebt uns neben der außergewöhnlichen Sortimentsvielfalt vom Mitbewerb ab“, betont Fitz. Konkurrenz gibt es nur regional und in Teilbereichen.
Aus den Lagerhallen in Wolfurt und Wien gehen täglich 3.000 Sendungen nach ganz Österreich. Zusätzlich ist Haberkorn mit 30 Niederlassungen in neun weiteren Ländern – Deutschland, der Schweiz, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Polen, Slowenien, Kroatien und Serbien – vertreten.
Fusion vergrößert Sortiment
Dass es bei Haberkorn vom simplen Schraubenzieher bis zum komplexen Hydraulikventil alles gibt, hat historische Gründe. Was in Bregenz mit einem kleinen Geschäft für Seilereiwaren begonnen hat, ist über die Jahrzehnte gewachsen. Denn das dichte Vertriebsnetz hat die Industrie angelockt, ihr Zubehör aus einer Hand zu bestellen.
In den 1990er-Jahren erfolgte die Expansion nach Osteuropa. Größter Meilenstein in der Unternehmensgeschichte war der Kauf des technischen Händlers „Ulmer“ im Jahr 2002. Klassische Konkurrenten waren die beiden Unternehmen davor keine, denn ihre Sortimente haben sich nur wenig überschnitten. Mit dieser Akquise hat sich Haberkorn die Bereiche Schläuche und Arbeitsschutz ins Haus geholt. Sie machen heute knapp ein Viertel des Umsatzes aus (siehe „Factbox“).
Während sich in anderen Branchen Kundenwünsche und Produktinnovationen im Eiltempo hochschaukeln, segelt Haberkorn in ruhigen Gewässern. „Artikel für Produktion und Instandhaltung verändern sich bei unseren Kunden kaum“, berichtet Fitz. Doch der Kapitän darf es sich trotzdem nicht mit der Pfeife unter Deck gemütlich machen. Denn es gibt ja die Digitalisierung der Supply-Chain. Während früher Bestellungen auf dem Thermopapier aus dem Fax geknattert sind, ist Haberkorns Warenwirtschaft heute mit vielen Kunden in Echtzeit verbunden. Erreicht dort ein Schraubenvorrat eine definierte Mindestmenge, löst das die automatische Bestellung in Wolfurt aus.
Wie das funktioniert? Beim Kunden fallen leere „Kanban-Boxen“, das sind kleine Vorratsboxen, in einen Sammelbehälter. Dieser ist „intelligent“ und erkennt anhand des RFID-Chips, welche Schraubensorte zur Neige geht.
Ähnlich funktioniert das bei Ausgabeautomaten für Arbeitsschutz. Während Handschuhe & Co. früher in Kisten eingelagert und nahezu unkontrolliert an die Belegschaft ausgegeben wurden, passiert das heute über Automaten, wie man sie für Snacks kennt. Jeder Arbeiter hat einen personalisierten Chip, der Aufschluss über den Verbrauch pro Mann gibt. Das mindert nicht nur den Schwund erheblich, der Automat bestellt selbständig nach. „Das spart dem Kunden Geld, besonders bei Kleinteilen, wo die Bestellkosten oft höher als die Produktkosten sind“, so Fitz.
Wer so viel Automatisierung bei der Bestellung predigt, muss dahinter auch Nachschub in Form von Waren sicherstellen. Bei weltweit 2.000 Lieferanten, davon 300 Kernlieferanten, keine einfache Sache, denn nicht jeder hat das parat, was Haberkorns Kunden gerade brauchen. „Um die Lieferfähigkeit von Herstellern auszugleichen, müssen wir viel auf Lager halten“, sagt Fitz. Wie bei den Eichhörnchen wird dann eingelagert, wenn Ware verfügbar ist. Damit Haberkorn in schlechten Zeiten trotzdem seine Kunden beliefern kann. Eigentlich ganz simpel, doch so eine Lagerhaltung ist kostspielig. 40 Millionen Euro an Waren ruhen in den Lagern. Und für alle Fälle hat Haberkorn alternative Lieferanten als Plan B. Absatzprognosen für alle Güter trifft man aus dem Datenschatz der Vergangenheit. Dabei hilft ein gemeinsam mit der FH Sankt Gallen entwickeltes Programm.
Automatisierung des Lagers steht bevor
Im Haberkorn’schen Lager riecht es nach Kunststoff und es ist dunkel. Während der 45-minütigen Mittagspause, wenn alle Arbeiter in der Kantine speisen, wird das Licht abgedreht. Energiesparen mit Hausverstand.
Mittagspause vorbei, das Licht geht wieder an. Gestärkt kommt Lagerarbeiter Manuel Salzgeber an seinen Arbeitsplatz im Kleinteilelager zurück. Das Förderband zieht sich als Hauptschlagader durch die Gänge zwischen braunen Kartonschachteln. Angefahren kommen Boxen, die von den Lagerarbeitern gefüllt werden. Jede davon ist eine Kundenbestellung. „Wie ein Zügle bleiben sie an jenen Bahnhöfen stehen, wo sie beladen werden“, erzählt der 30-Jährige in starkem Ländle-Dialekt. Im Klartext: Das Förderbandsystem „weiß“, in welchen Bereichen des Lagers die Waren ruhen, und kickt die Box vom Band in den „Bahnhof“.
Salzgeber (nicht mit dem Ex-Skifahrer verwandt) richtet den Handscanner wie eine Pistole auf die nächste einfahrende Box. Auf dem Display seiner „Waffe“ erscheint eine Zahlenkombination. Sie zeigt ihm die Koordinaten: Gang, Abschnitt, Höhe. In diesem Fall ein Zehnerpack Schleifscheiben. Ein erneuter Scan am Regal reduziert den Lagerstand. „Ohne Scanner geht bei uns gar nix“, lacht Salzgeber. So ist das nun mal im „chaotischen Lager“. „Wir Menschen verstehen es nicht, aber die Computer.“ Ob der fröhliche Lagerarbeiter, der seinen „Bahnhof“ mit Fotos der letzten Weihnachtsfeier geschmückt hat, Angst vor dem Jobverlust durch Automatisierung hat? „Klar ist das im Hinterkopf, wenn man schaut, wie schnell die Technik voranschreitet“, so seine Bedenken. Sein Gesicht nimmt dabei ernste Züge an. Er hofft, dass es weiterhin Tätigkeiten geben wird, die Roboter nicht übernehmen können. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Zwar wird bei Haberkorn noch viel von Hand erledigt, doch die Automatisierung klopft schon ans Lagertor. Nächstes Jahr wird die Standortvergrößerung fertig sein. Sie umfasst ein vollautomatisches Kleinteilelager mit 50.000 Plätzen sowie ein Hochregallager mit 8.000 Palettenplätzen. Ebenso vollautomatisch versteht sich. „Um zu wachsen, müssen wir die Kapazitäten der Logistik erweitern“, erklärt Fitz den Grund für die 20-Millionen-Euro-Investition. Wachstum funktioniert nämlich nicht mehr über eine Sortimentsvergrößerung, denn hier habe man schon den Plafond erreicht. „Sondern wir wollen bestehende Kunden dazu zu bringen, mehr zu bestellen“, sagt Fitz. Gelingen soll das mit digitalen Lösungen, wie automatisch nachbestellende Regale und Automaten. Aktuell macht Haberkorn damit ein Viertel des Umsatzes, Tendenz steigend.
Online-Shop für B2B
Eigentlich ist der technische Handel mit Industriezubehör ein B2B-Geschäft, doch hat Fitz vor zwei Jahren das gewagt, was man sonst nur aus B2C kennt: Der kostspielige Relaunch des Online-Shops. „Zehn Personen kümmern sich laufend um die Datenaufbereitung“, fügt er hinzu. Denn nur die Produkte online zu stellen, ist zu wenig. Bei so vielen speziellen Teilen braucht es unzählige Filterregeln, etwa „säurebeständig“ bei Schläuchen, damit der Kunde schnell durchs Sortiment navigieren kann. Obwohl manche Kunden tatsächlich online bestellen, hat der Shop in erster Linie Informationsfunktion.
Am Nachmittag geht es nochmal so richtig rund im Lager. Denn bestellt ein Kunde bis 15 Uhr, bekommt er sein Paket am nächsten Tag geliefert, so Haberkorns Credo. Flinke Hände packen an der letzten Station die davor an den „Bahnhöfen“ zusammengestellten Bestellungen in Kartons. Füllmaterial rein, Klebeband drüber. Fertig.
Nur bei einem blauen Zylinder hält der Arbeiter kurz inne. Sorgfältig wickelt er ihn in braunes Papier. „Damit sich die empfindliche Lackierung beim Transport in der Kiste nicht abschabt“, erklärt er. Schließlich legt auch die Industrie Wert aufs Äußere. Deshalb hat die „Goldschlange“ vermutlich auch einen schicken gelben Streifen.