„Weltweit sehr schwaches Wirtschaftswachstum“

Jean-Michel Six, Europa-Chefökonom von Standard & Poor’s: „Die Maßnahmen der EZB wirken sich kaum noch positiv auf das Wirtschaftswachstum und die Inflation aus.“
GEWINN: Die meisten Experten haben ihren Ausblick für Europa für 2016 nach unten revidiert, warum? Es wird konsumiert, die Investitionen springen langsam wieder an . . .
Six: Auch wir gehen für die Euro-Zone nicht mehr von 1,8 Prozent, sondern nur noch von 1,5 Prozent Wachstum aus. Vor allem wegen der Rückgänge im Export. Dazu tragen, so seltsam es klingt, die niedrigen Ölpreise bei. Ab einem bestimmten niedrigen Ölpreisniveau bei 30 US-Dollar je Fass überwiegen die Nachteile im Export die Vorteile aus dem günstigen Rohstoff. Die ölfördernden Emerging Markets sind längst wichtige Abnehmer europäischer Waren.
GEWINN: Sie haben auch kräftig die Inflationsrate für 2016 von 1,1 auf 0,4 Prozent zurückgenommen? Droht wirtschaftlicher Stillstand durch Deflation (Red., fallende Nachfrage bei fallenden Preisen)?
Six: Ich würde nicht von Deflation sprechen, sondern von einem weltweit sehr schwachen Wirtschaftswachstum. Die Gefahr besteht noch nicht 2016, eher 2017, sollten wir weitere Revisionen sehen. Derzeit unternimmt die europäische Geldpolitik aber alles, damit die Inflation steigt. Allerdings dachten wir vor einem Jahr auch, dass der Ölpreis schon wieder steigen würde, was dann nicht eintrat. Die niedrigen Ölpreise sind der Grund dafür, dass die Inflation in den Industriestaaten noch so niedrig ist.
GEWINN: Bewirkt diese lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank – sehr niedrige Zinsen, Aufkauf von Firmenanleihen guter Bonität – überhaupt noch etwas?
Six: Die Maßnahmen der Europäischen Zentralbank wirken sich immer weniger positiv auf das Wirtschaftswachstum und die Inflation aus. Das Problem in Europa ist die hohe private Verschuldung. Die haben die amerikanischen Haushalte schon besser im Griff.
GEWINN: Wie könnte man dann die Wirtschaft stimulieren?
Six: Es braucht unbedingt Reformen, vor allem auf dem Arbeitsmarkt in Italien und Frankreich. Da ist noch zu wenig geschehen.
GEWINN: Bremsen denn nicht die Russland-Sanktionen das europäische Wirtschaftswachstum?
Six: Russlands Wirtschaft hätte jedenfalls auch ohne die Sanktionen massive strukturelle Probleme. Die russische Leistungsbilanz fällt nur noch nicht schlechter aus, weil im Inland zunehmend ausländische Produkte durch inländische substituiert werden.
GEWINN: Ein großes Thema ist derzeit Großbritannien. Rechnen Sie am 23. Juni mit einer Abstimmung für einen Brexit, einen Ausstieg aus der EU?
Six: Politisch wäre es sehr schlecht, wirtschaftlich hielte sich der Schaden aber für die Europäische Union in Grenzen.
GEWINN: Und die Auswirkungen der Flüchtlingswelle?
Six: Das ist noch zu früh, um sie abschließend zu beurteilen, wir haben sie noch nicht in unseren Prognosen berücksichtigt. Kurzfristig bringt sie durch starke Verbrauchernachfrage und öffentliche Investitionen positive wirtschaftliche Impulse.
GEWINN: Rechnen Sie damit, dass die USA die Zinsen jetzt weiter erhöht?
Six: Sie werden dabei behutsam vorgehen. Denn erhöhen sie die Zinsen zu schnell, steigt der Dollar zu kräftig. Dann könnten die Emerging Markets in Schwierigkeiten geraten, wo viele Unternehmen in Dollar verschuldet sind. Wir erwarten in den USA zwei weitere Zinschritte von jeweils 25 Basispunkte in diesem Jahr.